LESEPROBE<
C.J. Sansom, Gräber der Verdammten, 2020, Fischer Taschenbuch S.390-392: Etwa hundert Leute hatten sich vor der Guildhall versammelt. Der hölzerne Galgen, der vor ein paar Tagen vor unseren Augen gezimmert worden war, stand nun fertig da: eine breite, erhöhte Plattform, zu welcher Stufen hinaufführten, und vier Balken, von denen dicke Stricke baumelten, mit Galgenschlingen an den Enden. Der Henker, ein kräftig gebauter Mann in einem weißen Hemd, mit grauen Haaren und einem harten, kantigen Gesicht, zog an den Schlingen, um mit professioneller Fachkenntnis ihre Stärke zu prüfen. Ein halbes Dutzend Soldaten mit Hellebarden stand mit dem Gesicht zur Menge, die sich vor dem Richtplatz dicht herandrängte. Der Henkersgehilfe, ein junger Mann in seinen Zwanzigern, zog an einem Hebel und bewirkte, dass der vordere Teil der Konstruktion, unterhalb der Galgen, krachend niederfuhr. Er schob den Hebel zurück, und die Bretter legten sich wieder an ihren Platz. Er nickte zufrieden. Am unteren Ende des Marktplatzes erschienen drei Fuhrwerke mit hohen Seitenwänden, von Pferden gezogen. Weitere Soldaten aus der Burg schritten daneben her. Ein anderer, die Trommel schlagend, ging vorneweg. […] „Der kurze Strick“, sagte ein Mann zu seiner Frau. „Einige von ihnen werden hübsch zappeln.“ „Ich will das nicht sehen.“ Nicholas wandte sich ab. Ich dagegen stand wie angewurzelt. Die Karren hatten nun die Guildhall erreicht und blieben stehen. Aus dem ersten wurden vier Gefangene von den Soldaten heruntergeholt. Die Arme waren ihnen fest an die Seiten gebunden. Ich erkannte sie vom Vortag: das Mädchen mit den wilden Haaren, die Hand um eine Flickenpuppe gekrallt, der rotgesichtige Weindieb, dem man offensichtlich gestattet hatte, sich zu betrinken – ich schloss es aus der Schwierigkeit der Soldaten, ihn vom Wagen zu holen –, der ausgehungerte Alte, der Brot gestohlen hatte und vor Angst zitterte, und als Letzter, die Augen schreckgeweitet, kam einer, der ein leuchtend rotes Wams über dem Hemd trug statt der abgetragenen Kleider der Armen: John Boleyn. Ich packte Nicholas so fest am Arm, dass er aufschrie. Er folgte meinem Blick. „Herrjesus!“ „Meine Hinrichtung ist ausgesetzt!“, schrie Boleyn und wehrte sich gegen die beiden Soldaten, die ihn festhielten. „Bestätigt durch den Richter!“ „Und ich bin die Königin von Frankreich!“, entgegnete einer der Wachmänner. „Komm schon, die anderen machen auch keinen Ärger!“ Die anderen drei Gefangenen begaben sich still zum Richtplatz, der Betrunkene ein wenig schwankend, die Frau ihre Flickenpuppe fest in der gefesselten Hand haltend, den Blick auf sie geheftet. […] Der Henker runzelte die Stirn und gab seinem Gehilfen ein Zeichen. Der betätigte den Hebel. Das Brett kippte weg. Die Menge schrie auf, als alle vier Gefangenen nach unten sackten, wenn auch nur wenige Zoll. Der Alte regte sich gleich nicht mehr, aber der Mann neben Boleyn, sein Protest nun erstickt, zuckte wild mit den Füßen, suchte mit hervortretenden Augen und Schaum vor den Lippen instinktiv nach einem Halt, um die Strangulation zu beenden. Auch die junge Frau zappelte frenetisch in der Luft. Die Vorderseite ihres Kleides wurde dunkel, als sie einnässte, und die Puppe glitt ihr aus den Fingern und landete auf dem Boden. Augenblicklich las jemand sie auf als ein Andenken. Boleyn jedoch zappelte nicht, zuckte nur krampfhaft hin und her, während sein Gesicht dunkelrot anlief und seine Zunge heraustrat. © 2020 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten