LESEPROBE<
Philippe Blasband, Zalmans Album, Frankfurt 1999, S. Fischer Zu Anfang war ich Zalman-Isaac-Moshé Rabinovitch aus Munsk. Ich war einer der Chassidim des Munsker Rebbe, studierte den Talmud und die Kommentare von Raschi und heiratete eine Frau, die vier Kinder zur Welt brachte, zwei Buben, glaube ich, und zwei Mädchen. Jetzt bin ich nichts mehr. […] An einem Abend im Dezember schoss mir plötzlich ein Gedanke ins Hirn, aber einer, den ich spüren konnte wie die Kälte, die mir in die Wangen biss, den ich sehen konnte wie die Funzeln in den Häusern – trotzdem war es nur ein Gedanke, aber diesen Gedanken konnte ich schmecken, knabbern, kauen, in die Hand nehmen, streicheln, kneten! Und diesen Gedanken will ich euch jetzt verraten! Stopft den Kindern Watte in die Ohren! Schließt die Augen! Dieser Gedanke wird euch die Eingeweide versengen, wie er mir das Hirn versengte! Und hier ist er schon: Es gibt nichts. Der Allmächtige ist nicht allmächtig. Der Allmächtige ist nichts. Er existiert nicht. Der Zaddik hat gelogen. Die Mitzwot haben gelogen. Das Buch und seine Kommentare waren Lügen. Ich fiel zu Boden. Und der Schnee deckte mich zu. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich war wütend. Nach einem solchen Gedanken, heiß und kalt zugleich, war alles möglich! Nichts konnte mich mehr bremsen! […] Ich nahm das Geld, das mein Vater mir hinterlassen hatte, das Geld, das meine Onkel und meine Brüder zusammengespart hatten, damit ich studieren und meine Familie ernähren konnte, und verprasste es! … Ich zog durch sämtliche Wirtshäuser, war bald in ganz Munsk bekannt. Ich kam mit dem Schnaps in Berührung und den schlimmen Räuschen, bei denen man sich die Seele aus dem Leib speit, mit den schlechten Weibern und ihren Körpern und den Übeln, die ihre Schenkel bargen, und wenn ich urinierte, zerrieben diese Übel mir die Rute. […] Innerhalb von sechs Monaten hatte ich drei Viertel meines Geldes durchgebracht. Das letzte Viertel wollte ich auch noch ausgeben, bis auf den letzten Heller, bis ich in meiner Verworfenheit nicht mehr tiefer sinken konnte, einem lebenden Toten gleich … Da trat mir der Engel des Allmächtigen entgegen. […] Ich heiße Léa Rabinovitch. Schon seit Jahren hat mich keiner mehr beim Vornamen genannt. Aber als ich noch klein war, bei uns daheim, da hörte ich ihn oft: „Léa! Léa! Léa! Léa!“ rief man bei jeder Gelegenheit, manchmal wegen nichts und wieder nichts. Ich war Léa, keine andere als Léa, ein kleines unscheinbares Mädchen in hellen Röcken, das ihr Haar offen trug und gerne jiddische Lieder sang. In dem Augenblick, als ich aufhörte, ein Mädchen zu sein, in dem Augenblick, als mein Mann mich zu seiner Frau machte, mit Gewalt, im selben Augenblick hörte ich auf, Léa zu sein, wurde zuerst „Frau“, dann „Mama“. […] Zalman Rabinovitch war kein schlechter Kerl. Er war einfach nur dumm. Obwohl er all diese Bücher gelesen hatte, auf jiddisch oder hebräisch geschrieben. Wenn die Leute behaupten, die Juden seien grundsätzlich gescheiter als die Gojim, muss ich immer an ihn denken: Zalman konnte durch keine Tür gehen, ohne sich am Türstock zu stoßen; […] „Oi weise mie! Wie geschieht mir?“, schrie ich, und die Hebamme, eine imposante, blasse Frau, die schweißgebadet war, als wäre sie selbst die Wöchnerin, die Hebamme lachte: „Du kriegst ein Kind, Tochter! Wie Millionen Frauen vor dir!“ Nachdem ich stundenlang geschrien hatte, war der Schmerz mit einem Schlag weg, statt dessen zerriss mir ein Schrei das Trommelfell, und die Hebamme hielt mir eine kleine, bläulichviolette Kaulquappe vor die Nase, wie eine Trophäe. Die Kaulquappe warf ihr Gesichtchen in Falten und schrie. Das sei mein Sohn, sagte die Hebamme. Ich wollte es nicht glauben. Was? Das da? Ein Kind? Mein Sohn? Die Kaulquappe öffnete hellblaue Augen und erkannte mich sofort. […] Ich heiße Martine Rabinovitch. Die sagen, ich wüsste das nicht. Aber ich weiß es wohl. Die sagen, ich könnte nicht. Ich kann wohl. Ich kann tausendmal. Ein paar von ihnen wollen mir Ali wegnehmen. Ich weiß das. Aber das können die gar nicht, jetzt sind nämlich die Ärzte auf meiner Seite, jetzt bin ich so stark wie nie zuvor. Ich habe eine Wohnung, kriege jeden Monat Geld überwiesen und suche mir Arbeit. Ich habe ein Kind. Ali. © 1999 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten