LESEPROBE<
John Dickie, Omertà – Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra, Ndrangheta, Frankfurt 2013, S. Fischer Teil 1, Viva la patria! Kapitel 1 (1851-1861): Wie man Gold aus Flöhen presst Sigismondo Castromediano, Herzog von Morciano, Markgraf von Caballino und Herr über sieben Baronien, saß auf dem Boden, die rechte Wade auf einen Amboss gelegt. Mit seinem hohen Wuchs und den blauen Augen schien er einer völlig anderen Spezies anzugehören als die neapolitanischen Kerkermeister, die vor ihm unter einem Pultdach standen und mit ihren Eisenwerkzeugen hantierten. Neben dem Herzog saß sein Landsmann Nicola Schiavoni in der gleichen würdelosen Haltung, den gleichen bangen Ausdruck im Gesicht. Einer der Kerkermeister packte den Fuß des Herzogs und streifte ihm ein Eisen über, das wie ein Steigbügel geformt war. Dann schloss er den Knöchel völlig ein, indem er einen Niet durch die kleinen Löcher an jedem Ende der Fußfessel trieb; dazwischen klemmte das letzte Glied einer schweren Kette. Lachend und singend, mit Schlägen, die Knochen hätten zertrümmern können, hämmerte der Kerkermeister den Niet flach. … Nachdem man ihnen befohlen hatte aufzustehen, hoben Castromediano und Schiavoni zum ersten Mal ihre Fesseln auf: dreieinhalb Meter lange Ketten, etwa zehn Kilo schwer. Für beide war dieser Moment der Beginn einer 30-jährigen Kerkerstrafe wegen Verschwörung gegen die Krone des Königreichs Neapel – einer der vielen Staaten, aus denen die italienische Halbinsel sich damals zusammensetzte. Die beiden Gefangenen umarmten einander, fassten sich ein Herz und taten dann ihren ungebrochenen Glauben an die heilige Sache Italien kund: „Wir küssten diese Ketten so zärtlich“, schrieb der Herzog, „als wären sie unsere Bräute.“ Die Wärter stutzten kurz. Doch dann fuhren sie in den Ritualen fort, die den Zugang zum Castello del Carmine markierten, einem der verrufensten Gefängnisse im Königreich. Zivilkleidung wurde durch Uniformen ersetzt, braune Hosen und rote Tuniken, beides aus grober Wolle. Mittels einer sichelförmigen Klinge schor man den Gefangenen die Köpfe kahl und blutig. Ein jeder erhielt eine mit Lumpen gestopfte Matratze, eine Decke aus Eselshaar und eine Schüssel. Die Sonne ging bereits unter, als der Herzog und sein Gefährte über den Gefängnishof geführt wurden und durch die Pforte schlurften. Was sie im Inneren des Gemäuers erwartete, erinnerte sich Castromediano, „hätte selbst die großmütigste Seele, das standhafteste Herz auszulöschen vermocht.“ Er wähnte sich in einer Sickergrube: ein langer, niedriger Raum, dessen Fußboden aus spitzen Steinen bestand. Schmale Fensteröffnungen in Deckennähe waren schwer vergittert, die Luft stickig und klamm. Ein Gestank wie von faulendem Fleisch entströmte dem Unrat, der allenthalben herumlag, und den Elendsgestalten, die sich im Halbdunkel herumdrückten. Während die Neuankömmlinge sich ängstlich nach einem Platz für ihre Matratzen umschauten, lösten sich zwei der Gefangenen aus der Menge und kamen näher. Der eine war groß und schön, sein Auftreten stolz. Er trug schwarzsamtene Beinkleider mit polierten Knöpfen an den Hüften und einen grellbunten Gürtel; den passenden Rock zierte eine Uhr an einer Kette. Mit ausgesuchter Höflichkeit redete er die beiden Patrioten an. „Wohlan, edle Herren! Das Glück ist euch hold. Wir alle hier haben schon darauf gewartet, euch Ehre zu erweisen. Lang lebe Italien! Lang lebe die Freiheit! Wir Camorristi, die wir euer trauriges, ehrenvolles Schicksal teilen, entbinden euch hiermit jeglicher Camorrapflicht … Fasst Mut, edle Herren! Ich schwöre zu Gott, dass euch niemand hier auch nur ein Haar krümmen wird. Ich bin der Anführer der Camorra, und nur ich habe hier das Sagen …“ Binnen einer Stunde hatten die neuen Gefangenen zwei nüchterne Lektionen gelernt: dass der Camorraboss den Mund keineswegs zu voll genommen hatte, was seine Macht anbelangte; und dass sein Versprechen, sie jeder „Camorrapflicht“ zu entbinden, völlig wertlos war. © 2013 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten