LESEPROBE<
Francesco Costa, Der Fuchs mit den drei Pfoten, Frankfurt 1997, S. Fischer Kapitel 1: „Und wo ist Neapel? Wo ist es hingekommen?“, fragt Vittorio. Seine Stimme zittert, aber er weiß, dass er dieses mulmige Gefühl im Bauch für sich behalten muss. … Was ist das hier für ein kleiner, enger Raum? Und diese hölzernen Wände, dieses winzige Fenster ins Nichts, dem er sich nur zögernd nähert? Möglicherweise hindert einen diese grauenhafte Kälte sogar am Denken, denn er weiß sich das Ganze einfach nicht zu erklären. Draußen ist es mucksmäuschenstill, und statt Neapel sieht man nur eine Ebene aus hartgefrorenem Morast, aus dem hie und da graues Gestrüpp hervorsticht, und nur weit, ganz weit hinten sieht man hohe, weiße Häuser mit vielen Balkonen. Alles Bunte ist fort, weil der Schlamm eine dieser Farben hat, für die es keinen Namen gibt. Eine ganze Stadt wie ein Teppich zusammengerollt und weggeräumt… Wer hat sich nur so etwas Teuflisches ausgedacht?Leseprobe Am Abend zuvor waren sie noch daheim, und jetzt… da geht ihm plötzlich ein Licht auf, und er muss lächeln, weil er nicht früher darauf gekommen ist. Sie sind alle tot, das ist es, im Schlaf gestorben, und wenn man stirbt, sieht man alles aus der Ferne, das weiß jeder. Genauso hat er sich den Himmel immer vorgestellt, still und ohne Farben. Jetzt haben alle ihren Frieden. „Wir wohnen jetzt hier“, sagt Doris, und das ist alles. Sie redet nicht viel, vielleicht weil sie eine Deutsche ist und nur wenige italienische Wörter kennt. In welcher Sprache sie wohl denkt, fragt sich Vittorio oft ... Aber im Augenblick hat er nur einen Gedanken im Kopf, nämlich, dass sie von nun an hier drin wohnen sollen, in dieser Art Umkleidekabine, die aber, so wie es aussieht, kein Meer davor hat, auch nicht dahinter oder daneben. Und wo ist das Badezimmer? Nicht dass es in der Sanità ausgesprochen komfortabel gewesen wäre, da haben sie zu acht in zwei winzigen Zimmern gewohnt, und das Klo war auf einem kleinen Balkon und wirklich nur ein Loch… Noch dazu hat es da ewig Streit gegeben mit den Besitzern, die sich alles mögliche ausgedacht haben, um sie hinauszuekeln, weil nämlich Renato, als er zusammen mit Doris aus dem Krieg heimgekehrt war, von seiner Mutter einen Zimmeranteil in einer Wohnung zugeteilt bekam, die völlig leer stand und niemandem zu gehören schien, in der Via Santa Maria Antesaecula 90, im obersten Stockwerk. Aber es gab eben doch Besitzer. Die waren nur nach Sizilien evakuiert worden, was immer das bedeuten mag, und ein paar Jahre hatte man nichts mehr von ihnen gehört, und so waren die Großeltern, drei Geschwister von Renato, Renato selbst, Doris und schließlich auch er, der nur wenige Monate später mitten in diesen Schlamassel hineingeboren wurde, in die Wohnung eingezogen. Sie hatten gedacht, dass die Besitzer in Sizilien höchstwahrscheinlich bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren, weshalb sie sich den Luxus erlaubten, voller Mitleid zu seufzen: „Die armen Leute, was für ein schlimmes Schicksal…“ Aber die armen Leute waren zurückgekommen, und von dem Tag an war es vorbei gewesen mit dem Frieden … © 1997 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten