LESEPROBE<
Eraldo Affinati, Ein Weg der Erinnerung. Von Venedig nach Auschwitz, Frankfurt 1999, S. Fischer S.125-129 Fluchbeladene Waggons Wir sind in den Zug nach Auschwitz umgestiegen wie drei alterslose teddy boys und haben größten Respekt vor uns selbst. Im Laufe des heutigen Tages müssten wir das Lager erreichen. Der Zug ist eine einzige Katastrophe. „Am Montag wurden die Verhafteten im Morgengrauen auf Lastwagen verfrachtet und zum Bahnhof Roma-Tiburtina gefahren, wo man sie in Viehwagen pferchte.“ (Giacomo Debenedetti, Am 16. Oktober 1943. Eine Chronik aus dem Ghetto) […] „Die dicht aneinandergedrängten Körper, der stechende Schmerz im rechten Knie. Die Tage. Die Nächte.“ (Jorge Semprún, Die große Reise) In Tschadca fordert man uns auf, auszusteigen, und wir müssen ein paar Kilometer mit dem Bus fahren. Der kommt mit großer Verspätung und hält auf dem glatten, regennassen Asphalt. Während wir im Schutz einer verzinkten Wand auf ihn warten, wird mir klar, dass dies unsere letzte Etappe ist. Unsere Ankunft musste genau so verlaufen und nicht anders. „Man pferchte uns in einen Güterwaggon, in dessen Enge wir fünf Tage lang aushalten mussten. Während der Fahrt durften wir nur zweimal aussteigen. Die Notdurft wurde in der Mitte des Wagens verrichtet.“ (Bruno Vasari, Mauthausen, bivacco della morte) Züge rattern rechts und links an uns vorbei. Der Verladebahnhof ist eine Baracke im Dreck. Frauen mit Kopftüchern tragen Körbe mit Obst. Sie gehen schnell, ohne zu sprechen. Die Polizisten haben die Hände in den Taschen, die Zigarette im Mund. Ich sehe tote Tauben auf dem Asphalt, Pfützen. Es fängt an zu regnen. „An das Leben während der Fahrt erinnere ich mich nur noch sehr vage: Durch die kleinen Luken, an denen, wenn die Waggons mit Vieh beladen sind, Ochsen stehen und nach draußen glotzen, sah man Bahnhöfe.“ (Aldo Carpi, Diario di Gusen) […] Czechowice-Dziedzice ist die tägliche Verladestelle nach Auschwitz. Es ist 12.08 Uhr. Wir stehen hier ungefähr zwanzig Minuten. Ich sehe die vergitterten Fenster, die komplizierten Verschlingungen der Leitungen, die Industriebauten. Es könnten Autowerkstätten sein. Weshalb sieht dann alles so verkohlt aus? Die Arbeiter, die zu zweit oder zu dritt in der Nähe der Mauer stehen, machen einem Angst. „Zweiundsechzig Personen, die man in einen Waggon zusammenpfercht, werden früher oder später fast zwangsläufig zu zweiundsechzig Feinden, die um jeden Quadratzentimeter miteinander kämpfen. Und der Kampf wurde immer mühsamer, weil manchen Leuten jedes Gefühl von Menschlichkeit abhanden gekommen war und einen das Bedürfnis nach Schlaf dem Nächsten gegenüber grausam werden ließ.“ (Corrado Saralvo, Più morti, più spazio) […] Wir befinden uns erneut auf dem staubigen Weg zwischen Fuhrwerken, Dung, Aluminium, zum Trocknen aufgehängten Hemden, Kühen, gusseisernen Öfen, Dörfern, die nur aus vier Häusern bestehen, einem Kirchturm, von dem der Putz abblättert, und einem Wassertank. Tausende und Abertausende von Menschen sind hier vorbeigefahren: Der endlose Zug fluchbeladener Waggons wand sich durch Europa wie ein Wurm. Die Deutsche Reichsbahn stellte die Deportationen in Rechnung. Der Fahrpreis errechnete sich aus den zurückgelegten Kilometern: einfache Fahrt. Jitzhak Katzenelson beschrieb kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz in einem „Gesang“ das Entsetzen des Mannes, der zusehen muss, wie sein Volk stirbt... Er sieht die Pferdefuhrwerke und Züge, die die Juden in die Lager transportieren, und bringt die Stärke auf, sich vorzustellen, dass die Tiere, wüssten sie, wohin sie trotteten, nicht mehr weitergehen würden […] © 1999 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten