LESEPROBE<
Cristina Campo, Die Unverzeihlichen. Essays zur Literatur, München 1996: Matthes & Seitz S. 128-130 Aus Kapitel IV, Mit leichten Händen La sprezzatura è arte (Geringschätzung ist eine Kunst). […] Die sprezzatura bezeichnet in Wahrheit eine tiefere und umfänglichere Haltung, die wie das Wort selbst eines in der heutigen Zeit so gut wie verlorenen Zusammenhangs bedarf, mit dem sie, wie das Wort, unterzugehen droht, oder – zumal eigentlich nichts Existierendes wirklich untergehen kann – sie bleibt in jenen finsteren Kerkern, wo man in grausamen, gesetzestreuen Zeiten den Prinzipien Ketten anlegte, die die Gemüter des Volkes erhitzt hatten, und die man mitsamt ihren Namen wohlweislich vergaß. Auf einigen Portraits – aus den Augen verlorene Gesichter, unkenntlich schon bald, und falls noch zu erkennen, unverzeihlich, weil sie der Mitwelt so fremd geworden sind – auf jenen Bildern also, die noch in verborgenen Winkeln alter Häuser hängen, finden wir etwas Geheimnisvolles, Leichtes, das meines Erachtens eng verbunden ist mit Stil. Auf einer berühmten Fotografie, die Russlands letzten Herrscher im Gewand des Zaren Alexander I. zeigt, seines heiligen Vorgängers, wiederholt sich die edle Symmetrie der bauschigen Ärmel von purpurrotem Samt geheimnisvoll in den goldenen Flügeln des Doppeladlers auf der Brust und wetteifert mit dem exakten, klösterlichen, kriegerischen Rund des Kragens. All dies wird unerwartet belebt von einer kecken, schräg sitzenden Mütze aus glänzend schwarzem Marderfell und verrät mehr als tausend Schriften über die mystische Kühnheit dieses glücklosen Herrschers, des letzten rein moskowitischen Zaren, der versuchte – ohne geistige Waffen, ohne politisches Genie, ohne die Hilfe auch nur eines Menschen – die aufgeklärte Autokratie der Romanows von Petersburg zu ihrem russischen Archetypus rein religiöser Bestimmung zurückzuführen. Wäre es ihm gelungen, mit der unvergleichlichen Eleganz des Gewands seines Vorgängers auch dessen zärtliche, unerbittliche sprezzatura anzulegen, so hätte er die Gemüter nicht erst mit seinem Leiden und Sterben bewegt. Die Herrscherhäuser fallen, sobald die Erziehung der Fürsten bürgerlicher Lethargie weicht und deren starrsinniger, abergläubischer Unwissenheit um den geistigen Ursprung eines jeden Reichs. Rings um den russischen Zaren, umgeben von sublimen Ikonen und gesalbt mit dem heiligen Myron, fiel das Reich nieder auf einen Haufen englischer Romanzen, auf Törtchen, serviert von englischen Tantchen, auf Ponys, Malteser und benzolhaltige Bäder; und die heiligen Diademe waren gefallen, als die herrlichen Geschöpfe, die sich noch mit ihnen zierten, nicht mehr imstande waren, das haarsträubende Nebeneinander von tragischem Epos und niedlichen Pudelnamen wahrzunehmen, die uns in ihren Briefen entsetzen. Der beste Historiker des Zaren Nikolaus erklärt, dass der überaus fromme Kaiser, gefangen in einem Hof, der seit mindestens zweihundert Jahren keinerlei einfache, große Konzeption von Macht mehr zugelassen hatte, nicht einmal mehr jene vornehme Kunst beherrschte, wie man mit Geringschätzung den Untertanen wirkungsvoll seine Überlegenheit kundtut. Und dennoch beugte das Volk, wenn er vorüberkam, bis zum letzten Jahr seiner Herrschaft die Knie, um seinen Schatten zu küssen, wie in Szenen aus der apostolischen Ära: So echt fühlte es in jenem sanften Menschen die Ehrfurcht vor dem eigenen Schicksal. © 1996 MSB Matthes&Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten