LESEPROBE<
Ben Wilson, Metropolen, Frankfurt 2022, S. Fischer S.130 – 132: Im 4. Jahrhundert konnten schätzungsweise über 60 000 Römer zu jeder Tageszeit ein Bad genießen. Agrippa (25 v. Chr.) und die Kaiser Nero (62 n. Chr.), Trajan (109) und Commodus (183) hatten der Stadt bereits weitläufige öffentliche Thermen hinterlassen; noch größere und opulentere Bäder, erbaut von Alexander, Decius, Diokletian und Konstantin, sollten in den nachfolgenden Jahrhunderten hinzukommen. […] Reich und Arm konnten am selben Ort an den Freuden römischer Pracht und Herrlichkeit teilhaben – dem Bad. Die gesamte Raffinesse der urbanen Zivilisation manifestierte sich hier, inmitten von Marmor und Mosaiken. Das Wasser war nur ein Teil des Angebots. Die Badehäuser verfügten über Saunen, über Räume, in denen die Gäste massiert, parfümiert, frisiert und kosmetisch behandelt wurden (Seneca berichtet von den verstörenden Aufschreien der Kunden, die sich die Achselhaare zupfen ließen). Ernsthafter Sport – Gewichtheben, Ringen, Boxen und Fechten – fand in zwei großen Gymnasien statt, im Schatten weiterer Meisterwerke der antiken Bildhauerkunst; bis heute überlebt hat einzig der Farnesische Stier, eine kolossale Figurengruppe, die aus einem einzigen Marmorblock gehauen wurde. Wer wollte, beteiligte sich in den Gärten an gymnastischen Übungen und an Spielen. Badegäste mit nachdenklicherem Naturell konnten in gesonderten Räumen Lesungen beiwohnen oder sich aus einer der beiden Bibliotheken eine lateinische oder griechische Schrift ausleihen und sie sich in einem der Lesesäle zu Gemüte führen. Es gab Imbissstände und Geschäfte, die Düfte und anderes Pflegezubehör feilboten. Darunter sorgte ein Netz aus Schächten für den Wasserabfluss und bot Zugang zu den Öfen, die Tag für Tag zehn Tonnen Holz verbrauchten, um die Becken und Saunen zu beheizen. Allein die Beschreibung der Caracalla-Thermen lässt an ein elegantes Wellnesshotel oder ein Sanatorium denken. Doch es war alles andere als das. „Umrauscht mich doch hier der mannigfachste Lärm von allen Seiten. Meine Wohnung ist gerade über dem Bade“, stöhnte Seneca. Bedeutende Persönlichkeiten betraten die Thermen in herrischer Pose. Sie führten eine Entourage aus nackten Gefolgsleuten mit sich, um ihren Status und Reichtum zur Schau zu stellen. Man schloss in den Bädern Geschäfte ab, diskutierte über Politik, teilte Klatsch und Tratsch, und erwirkte Einladungen zum Abendessen. Sehen und gesehen werden, lautete die Devise. Also aß, trank, debattierte, flirtete man und hatte gelegentlich auch Sex in den Mauernischen; und kritzelte Graffiti in den Marmor. Leute, die später gemeinsam speisen würden, trafen sich zuvor zu einem Trinkgelage. Wein war in rauen Mengen verfügbar. Die geräumigen kaiserlichen Badehäuser hallten wider vom lärmenden Durcheinander der Gespräche und bisweilen auch Zänkereien Tausender und den Rufen der Händler, die Kuchen, Süßigkeiten, Getränke und schmackhafte Imbisse feilboten. Gewichtheber ächzten und stöhnten; der aktuelle Stand eines Ballspiels wurde verkündet; die Hände der Masseure landeten mit lautem Klatschen auf nacktem Fleisch, ein Geräusch, das die überwölbten Hallen füllte. Ein paar nervtötende Zeitgenossen pflegten während des Badens gar zu singen. Menschentrauben bildeten sich um Jongleure, Possenreißer, Schlangenbeschwörer, Zauberkünstler und Athleten. […] Angesichts der römischen Vorliebe für das Baden stellt sich unweigerlich die Frage: War es ein fatales Laster? Je mehr Zeit verging, desto ausufernder wurden die Lust am Baden und die damit verbundenen Aktivitäten. Das Bad verschlang immer mehr Zeit. All dieses Gehätschel, Gesuhle und Geschniegle passte doch unmöglich zu dem strengen, stoischen Geist, der Rom zum Herrscher über den Mittelmeerraum und Westeuropa gemacht hatte, nicht wahr? © 2022 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten