LESEPROBE<
Adam Higginbotham, Mitternacht in Tschernobyl, Frankfurt 2019, S. Fischer Prolog: Samstag, 26. April 1986; 16:16 Uhr Kernkraftwerk Tschernobyl, Ukraine Oberleutnant Alexander Logatschew liebte die Strahlung so wie andere Männer ihre Frauen lieben. Hoch aufgeschossen und gutaussehend, 26 Jahre alt, mit kurz geschorenen blonden Haaren und eisblauen Augen, war Logatschew in die Sowjetarmee eingetreten, als er noch ein Junge war. Er hatte ein gutes Training erhalten. Die Ausbilder an der Militärakademie vor den Toren Moskaus hatten ihm den Umgang mit tödlichen Giften und ungeschützter Strahlung beigebracht. Er war zum Atomwaffentestgelände Semipalatinsk in Kasachstan und zur trostlosen Osturalspur gereist, wo der Fallout eines geheim gehaltenen radioaktiven Unfalls noch heute die Landschaft vergiftet. Seine Ausbildung hatte ihn sogar zu der verbotenen Inselgruppe Nowaja Semlja hoch oben im Polarkreis geführt, auf der die schreckliche Zar-Bombe gezündet worden war, die größte Kernfusionswaffe in der Geschichte. Jetzt, als oberster Offizier der Aufklärungsdivision Strahlenschutz des 427. Mechanisierten Rotbanner-Regiments des Zivilschutzes in der Region Kiew, wusste Logatschew, wie er sich selbst und seine drei Untergebenen vor Nervengiften, biologischen Waffen, Gammastrahlen und heißen Teilchen schützen konnte: indem er sich genau an die Vorschriften hielt, seinem Dosimeter vertraute und nötigenfalls nach der Erste-Hilfe-Ausrüstung für atomare, biologische und chemische Kriegsführung griff, die sich im Cockpit des Panzerwagens befand. Der beste Schutz, so seine Überzeugung, war jedoch psychologischer Natur. Wer sich dazu hinreißen ließ, die Strahlung zu fürchten, der lebte gefährlich. Wer ihre gespenstische Gegenwart dagegen liebte und schätzte, ihre Launen verstand, der hielt sogar dem intensiven Beschuss durch Gammastrahlen stand und war danach genauso gesund wie zuvor. Während er an diesem Morgen durch die Vororte von Kiew brauste, an der Spitze einer Kolonne aus über dreißig Fahrzeugen, die zu einem Zwischenfall im Kernkraftwerk Tschernobyl gerufen worden waren, hatte Logatschew allen Grund zur Zuversicht. Die Frühlingsluft, die durch die Luken seines Panzerspähwagens hereinwehte, duftete nach Bäumen und frisch gemähtem Gras. Seine Männer, die sich am Vorabend zur monatlichen Inspektion auf dem Paradeplatz eingefunden hatten, waren gut gedrillt und einsatzbereit. Die Strahlungsdetektoren zu seinen Füßen – darunter ein neu installiertes elektronisches Messgerät, das doppelt so empfindlich war wie das Vorgängermodell – raunten sanft. Sie nahmen offenbar nichts Ungewöhnliches wahr in der Atmosphäre ringsum. Als sie sich später jedoch dem Kraftwerk näherten, wurde klar, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war. Vor dem Betonschild, das den Eingang zum Kraftwerksgelände markierte, schlug das Dosimeter zum ersten Mal Alarm, und der Leutnant ließ anhalten, um den Wert zu erfassen: 51 Röntgen pro Stunde. Nur 60 Minuten an dieser Stelle, und sie würden alle die Höchstdosis für einen sowjetischen Soldaten während eines Kampfeinsatzes aufnehmen. […] Als der Panzerspähwagen dann am betonierten Ufer des Kühlungskanals entlang polterte, kam schließlich die Silhouette von Reaktorblock Vier des Kernkraftwerks Tschernobyl in Sicht, und Logatschew und seine Männer betrachteten sie schweigend. Das Dach des 20-stöckigen Gebäudes war aufgerissen, die oberen Bereiche geschwärzt und eingestürzt. Sie sahen zertrümmerte Stahlbetonplatten, herabgestürzte Graphitblöcke und an manchen Stellen die schimmernden Metallgehäuse der Brennelemente aus dem Reaktorkern. Eine Dampfwolke trieb aus der Ruine in den sonnigen Himmel. […] Kapitel 5, unmittelbar nach der Katastrophe: Alles lag in Trümmern. Die riesigen Stahlbehälter waren entzwei gerissen wie nasse Pappe, und oberhalb des Wracks, wo die Wände und die Decke der Halle hätten sein sollen, sahen sie nur Sterne. Sie starrten ins Leere; die Eingeweide des in Nacht getauchten Kraftwerks waren vom Mondlicht beschienen. Die beiden Männer begaben sich in den ebenerdigen Transportkorridor und taumelten in die Dunkelheit hinaus. Tregub und Juwtschenko, nicht weiter als fünfzig Meter vom Reaktor entfernt, begriffen als erste, was mit Block Vier geschehen war. Es war ein entsetzlicher, apokalyptischer Anblick. Das Dach der Reaktorhalle fehlte, und die rechte Wand war durch die Wucht der Explosion fast vollständig zerstört worden. Die Hälfte des Kühlkreislaufs war einfach verschwunden. Auf der linken Seite baumelten die Wassertanks und Rohrleitungen, die einmal die Hauptumwälzpumpen mit Wasser gespeist hatten, in der Luft. In diesem Moment wusste Juwtschenko, dass Waleri Chodemtschuk mit Sicherheit tot war. Die Stelle, an der er gestanden hatte, lag unter einem dampfenden Schutthaufen begraben, beleuchtet von den Blitzen aus den durchtrennten, männerarmdicken 6000-Volt-Kabeln, die funkensprühend hin und her peitschten und dabei alles unter Strom setzten, was sie berührten. Und irgendwo inmitten des wüsten Durcheinanders aus Stahl- und Betontrümmern – aus den Tiefen der Ruine von Block Vier, wo der Reaktor sein sollte – sah Alexander Juwtschenko etwas aufragen, das noch weitaus verstörender war - eine schimmernde Säule aus ätherisch blauweißem Licht, die geradewegs in den Nachthimmel schwebte und in die Unendlichkeit entschwand. Seltsam zart und umspielt von flackernden Farben, hervorgezaubert von den Flammen aus dem Inneren des brennenden Gebäudes und aus glühenden Metall- und Maschinentrümmern, betörte das schöne Nachleuchten Juwtschenko ein paar Sekunden. Dann riss ihn Tregub um die Ecke und aus der unmittelbaren Gefahr. Das Phänomen, das den jungen Ingenieur so fasziniert hatte, wurde von der radioaktiven Luftionisation hervorgerufen und galt als untrügliches Zeichen dafür, dass ein nicht abgeschirmter Atomreaktor mit der Atmosphäre in Kontakt kam. © 2019 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten